Ahr-Ännchen

Oh Mann, da ist sie schon wieder. Kaum, dass ich aus der Tür getreten war, lachte sie mich an und winkte verlockend mit ihrem Weinkrug. Dabei drehte der Ahr-Rotwein des vergangenen Abends noch seine Runden in meinem Kopf. Aber Ännchen stand schon mit ihrem Krug bereit und wartete auf die ersten Gäste. Neben ihr auf der Hauswand steht in großen Lettern: Anno Domini 1763. Trotz ihres jugendlichen Aussehens ist sie anscheinend doch ein paar Jahre älter als ich, und vermutlich wird sie mich auch um einige Jahre überleben. Die Voraussetzungen dafür sind nicht so schlecht. Was Rüdesheim für den Rheingau ist Ahrweiler für das Ahrtal. Und ich stand gerade in seiner „Drosselgasse“, als Ännchen sich alle Mühe gab, um mich zu verführen. Vor dem ersten morgendlichen Kaffee bin ich aber recht unleidlich und wortkarg (danach wird es ein wenig besser), deshalb ließ ich sie links liegen. Die sonst so proppenvolle Gasse der Weinseligkeit war noch ungewohnt leer. Das war vermutlich der frühen Stunde eines Tages außerhalb der Saison geschuldet, vielleicht auch dem eiskalten Wetter der vorangegangenen Tage. An den schattigen Stellen zeugten noch zähe Schneehäufchen davon. Viele Besucher, denen man hier begegnet, haben ihre Wanderstiefel geschnürt. Der Rotwein-Wanderweg lockt und abends die zahlreichen Schänken, in denen das Getränk ausgeschenkt wird, welches dem Wanderweg seinen Namen gab.

Das Weinbaugebiet der Ahr ist das größte geschlossene Rotweinanbaugebiet in Deutschland. Wer dem touristischen Powerpack in Ahrweiler entfliehen möchte, hat es schwer, wenn er denn mal hier ist. Die Altstadt ist von einer Mauer umschlossen, da gibt es kein Entrinnen, wenn man nicht eines der vier Stadttore findet. Private Beziehungen führen mich ab und an hier her, und mittlerweile bin ich schon durch alle Tore gegangen. Das gibt ein sicheres Gefühl, wenn man die Fluchtwege kennt. An diesem frühen Sonntagmorgen gab es keinen Grund zur Flucht. Die Gassen waren noch ausgestorben und nur einige Bäckereien hatten geöffnet. Der Hund führte mich zielstrebig zum Marktplatz. Auf den umstehenden Bänken lagen noch die Reste des Schneeregens, der am Abend zuvor den Heimweg eher ein bisschen unangenehm gestaltet hatte. Einen älteren Mann schien das nicht zu stören. Vor der St.-Laurentius-Kirche hatte er es sich auf einer Bank bequem gemacht. Saß der nicht schon in der vergangenen Nacht dort, ich war mir nicht mehr sicher. Vielleicht war er ja der Nachtwächter der Kirche oder suchte ihre Nähe. Wenn nichts mehr hilft, richtet auch der Atheist sein Stoßgebet in Richtung des Himmels, wenn auch heimlich. Jedenfalls ließ er mich an diesem Morgen nicht aus den Augen, als ich auf dem Marktplatz herumspazierte, d. h., mehr oder weniger dem Hund folgte. Gut, ich war auch der Einzige auf dem Platz, außer ihm. Ich widmete mich lieber dem Blick auf die steil aufragenden Weinberge, die hier gleich hinter den Häusern zum Himmel streben. Eiskalt, frostig und schneebestäubt strebt das Vulkangestein in die Höhe, schon sanft von der Sonne gestreichelt, die diesen Tag begleiten sollte. Mir fiel auf, dass ich die Kirche umkreist hatte. Ich stand schon einige Male davor, habe sie aber nie betreten. Dabei soll es sich lohnen, im Innern schmücken Wandmalereien aus einigen Jahrhunderten die Wände der St.-Laurentius-Kirche. Sie gilt als die älteste gotische Hallenkirche des Rheinlandes und seit 1269 wurde daran herumgewerkelt. Durch die protestantischen Bilderstürmereien vergangener Jahrhunderte, die evangelische Kirchen entleerten, habe ich oft den Eindruck, dass so etwas wie Spiritualität nur noch in katholischen Kirchen zu finden ist, kunsthistorisch Interessantes sowieso. Bei den Protestanten könnten im Kircheninnern auch regelmäßig die Sitzungen der örtlichen Versicherungsvertreter stattfinden. Gut, dort bräuchte man sicher auch einen festen Glauben.

Im Schaufenster eines kleinen Antiquariates entdeckte ich, neben den üblichen lieblosen Aquarellen und Stadtansichten der regionalen Tourismus-Bedarfsmaler, einen meisterlich radierten Hasen. Aufrecht stehend schaute er mich recht provokant an. So steht und schaut er schon seit 1923, als er durch die Druckpresse auf Papier gebannt wurde. Den Namen des Grafikers kann ich nicht entziffern, aber der hat eine handwerklich perfekte Arbeit abgeliefert, und ich mag so etwas. Er erinnerte mich in der Ausführung und im Stil ein wenig an Richard Müller, dessen Werk fast in Vergessenheit geraten ist. Allerdings würden beim Betrachten seines druckgrafischen Werkes heute auch einige Twitter-Mädels hyperventilieren und ein ganz schlechtes Bauchgefühl bekommen. Mittlerweile ist die Bilderstürmerei wieder sehr beliebt. Keine Überraschung, die Gegenwart ist immer auch schon viele Jahrhunderte alt. Meister Lampe im Schaufenster juckt das alles nicht. Er wird sicherlich seinen Käufer finden. Preisschild hat er keines, aber er wird einige Thaler kosten. Schließlich naht das Osterfest. Wer möchte da nicht seinen eigenen Osterhasen haben?

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. 2018 Ahrweiler

Glückskeks auf Gottesacker

Glückskeks auf Gottesacker

Sonniges Spätsommerwetter begleitete den Gang durch eine Lindenallee. Licht und Schatten balgten sich in den Blättern um ihren Anteil an diesem Tag. Es ist Mittagszeit und fast menschenleer. Die Gedanken haben genug Raum. Das ist vorteilhaft, wenn man vor einem Friedhof steht, dessen hölzernes Portal den Eintretenden mit den Worten „Gesät wird in Vergänglichkeit“ mahnt. (Auf der gegenüberliegenden Seite des Friedhofes ein weiteres Portal mit der Inschrift: “Auferstanden wird in Unvergänglichkeit“). Beim Betreten kam dann ein überraschendes Hallo aus der Gegenwart. Ein Paar verließ grüßend den Friedhof. Womöglich kennt jemand den Blick von Frauen, die sich zufällig begegnen und dabei feststellen, dass sie das gleiche Kleid tragen. Nun war es die Tasche. Was ich sicher übersehen hätte, wurde von meiner Begleitung, mb, und der uns fremden Frau sofort erkannt und mit den gegenseitigen erstaunten und wortlosen Blicken zur Kenntnis genommen. Bei der Tasche handelte es sich um ein eher seltenes Exemplar einer kleinen hessischen Manufaktur. Auf manchem Friedhof ist Europa ein Dorf.

Wir stehen auf einem Gottesacker der Herrnhuter Brüdergemeine, auf dem sich etwa 2.000 Grabstätten befinden. Auf einem fast rechtwinkligen Feld, umrahmt und durchkreuzt von Lindenalleen, liegen die Grabplatten aus grauem Felsgestein in der gleichen Größe in Reih und Glied ausgerichtet. Hier soll sich die Gleichheit aller Menschen vor Gott im Tod dem Betrachter offenbaren. Ein schmuckloser Gottesacker auf nackter Erde.

Meist bin ich genug damit beschäftigt, meiner eigenen Dummheit nicht allzu viel Raum zu geben, da bleibt mir kaum Zeit für eine, wie auch immer geartete Glaubensideologie. Das mit der Gleichheit ist natürlich auch nur eine Fiktion, der sich die Realität beharrlich verweigert. Wie es in himmlischen Gefilden damit bestellt ist, sage ich, wenn ich es weiß. Die Herrnhuter Gemeindemitglieder nahmen es mit der Gleichheit jedenfalls auch nicht ganz so penibel. Die Männer wurden westwärts und die Frauen ostwärts in der Reihenfolge ihres Heimgangs beerdigt. An diesem Tag wurden beide Seiten gleichermaßen von der Mittagssonne beschienen und die vertrieb solche Gedanken schnell, zumal ich mich selbst bei diesem herrlichen Wetter eher als Kind fühlte, das den Jackpot bei den Glückskeksen abgeräumt hat.

Der Gottesacker wurde 1773 eingeweiht. Die Grabsteine sind alle in der Reihenfolge ihrer Bestattung durchnummeriert. Die Nummer 1 wurde 1774 zur Ruhe gelegt, vier Jahre später war man bei Nummer 11 angelangt. Wer sich die Mühe macht, und die auf immer gleiche Weise in den Stein gehauenen Daten vergleicht, wird die wenig erstaunliche Feststellung machen, dass es in dieser Zeit mit der Lebenserwartung nicht so weit her war. Dafür war der Glaube an die Ewigkeit sicher ausgeprägter als es heute der Fall ist. Ähnliches dachte ich bei der Raupe, die sich auf einer zerfallenen Grabplatte den Platz an der Sonne gesucht hatte. Fingerdick und geschätzte 10 cm lang präsentierte sie sich als fettes Mittagessen für gefiederte Friedhofsbesucher, und ich hielt es für fraglich, ob sie ihr Ziel, ein schöner Nachtfalter zu werden, jemals erreicht. So oder so, irgendwann geht das Licht aus. Was an diesem Ort bleibt, sind die über viele Jahre von Wind und Wetter bearbeiteten Steinplatten, deren feine Schreibschriften immer mehr an Tiefe und Schärfe verlieren. Ebenso wie die Menschen, die darunter begraben liegen. Die Zeit gräbt sie scheinbar immer tiefer in die Erde, und ihre Geschichten werden zu vergessener Geschichte.

Andererseits bemüht man sich hier um die Geschichte, wenn schon die individuellen Geschichten zwangsläufig in Vergessenheit geraten. Der Ort heißt Christiansfeld in Dänemark und er steht mitsamt dem Gottesacker auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Name geht auf den dänischen König Christian VII zurück. Der hatte den Plan, die pietistische Herrnhuter Brüdergemeine, eine mehr oder weniger protestantisch orientierte christliche Glaubensgemeinschaft, auf seinem Land siedeln zu lassen. Nicht aus Glaubensgründen, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen. Fleißige Handwerker und Händler waren zu jeder Zeit begehrt. Um etwaige Glaubensdiskussionen im ureigenen Land (Dänemark) zu vermeiden, gab er ihnen einen Flecken Erde im Schleswiger Herzogtum, dessen Chef er damals praktischer Weise auch war. Das Herzogtum gehört heute zur Vergangenheit und zu Dänemark, und die heutigen Glaubensdispute sind, sofern sie überhaupt noch verbal geführt werden, von anderer Natur. Mir genügt es, die Tür abzuschließen, wenn die Missionare von Glaubensgemeinschaften davor stehen. Gleich von welcher Partei sie kommen.

Das 1773 gegründete Christiansfeld ist eine geplante Stadt mit einem architektonisch geschlossenen historischen Stadtbild. Das macht sie heute noch ganz sehenswert. Honigkuchen ist zwar ein anderes Thema, aber trotzdem sehr lecker. Nach einer alten Rezeptur der Herrnhuter Siedler von 1783 wird er noch heute im historischen Bäckereigebäude hergestellt, und obwohl ich kein Honigkuchen-Experte bin, nur der Mann für die Glückskekse, denke ich, dass er jeden Geschmackstest gut bestehen kann. Für eine andere Errungenschaft der Herrnhuter reicht es, die Werbeblätter durchzublättern. Jetzt, wo sich darin schon der Advent und die Weihnachtszeit warmlaufen, muss man nicht lange blättern, um auf einen Herrnhuter-Stern zu stoßen. Das sind die mit den 25 Zacken.

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel, 2017 Dänemark

Der große Sand

Der große Sand

Vielleicht wird es Erstaunen, aber ich hatte nicht immer eine Körperlänge von einemmeterachtzig. Es gab Zeiten, in denen ich gut einen Meter kürzer war. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war damals, tiefe Löcher zu graben. Das war schwierig, denn der feinsandige Boden rutschte immer wieder nach und verhinderte so den Bau eines großzügigen Tunnelsystems unter unserem Garten. Diese Angewohnheit, tiefe Löcher zu graben, verwuchs sich in den letzten Jahren. Der feine Sand allerdings blieb, und er war auch schon lange vor meinen unterirdischen Aktivitäten hier gewesen. Während der letzten Eiszeit haben sich westlich von Darmstadt riesige Sanddünen angehäuft. Feiner kalkhaltiger Treibsand wurde vom Rhein und Neckar hierher geweht und überdauerte die Zeit.

Auf einer dieser Sanddünen beginnt auch Elisabeth Langgässers Roman „Gang durch das Ried“, der 1936 erschien. Dem einzigen Stück nennenswerter Literatur, das im südhessischen Ried spielt. Der erste Satz in diesem Buch lautet: „Im Spätherbst des Jahres 1930 ging ein Mann über das verlassene französische Lager, das früher ein deutsches gewesen war und sich zwischen der hessischen Hauptstadt, ... ... ... und dem großen Sande dahinzieht.“ Die hessische Hauptstadt ist Darmstadt und der „große Sand“ zieht sich westlich davon, bei dem kleinen Städtchen Griesheim, zum Ried hin. Das „verlassene französische Lager“ gab es, wie vieles andere in diesem Buch, tatsächlich. Es wurde im Jahr 1930 geräumt, bis dahin war dieses Gebiet bis an die Stadtgrenze Darmstadts von 1918 bis 1930 von Frankreich militärisch besetzt. Elisabeth Langgässer wusste, wovon sie schrieb, kannte Zeit und Gegend aus eigener Anschauung. Sie unterrichtete als Volksschullehrerin bis 1928 im damals französischen Griesheim.

Der „große Sand“ ist von unserer Haustür knapp zehn Autominuten entfernt, und bei schönem Wetter wagten wir die Fahrt dorthin, nachdem ich die Strecke als unbedenklich eingestuft hatte. Vor neunzig Jahren hätten wir auf diesen paar Kilometern die französische Grenze passieren müssen und wären, ohne Passierschein, vermutlich als Schmuggler erschossen worden. Kein Witz, es sind Leute an dieser Grenze erschossen worden.

Seit 1953 sind die verbliebenen Reste der eiszeitlichen Dünenlandschaft unter Schutz gestellt. Das 45ha große Natur- und Landschaftsschutzgebiet beherbergt heute zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, die in Mitteleuropa vom Aussterben bedroht sind. Der Spargel, der hier in unmittelbarer Nachbarschaft wächst, gehört glücklicherweise noch nicht zu den bedrohten Arten. Spione auch nicht. Jedenfalls haben die es hier geschafft, was mir vor Jahren versagt blieb. Sie haben sich viele Stockwerke tief in den feinen Sandboden eingegraben. Zwischen Sandmagerrasen und Spargelfeld findet sich einer der größten und wichtigsten Stützpunkte der NSA in Europa. Also Vorsicht: Eine riesige Spionenpopulation!

Ansonsten ist es wie überall: Mit Sand in den Schuhen lässt es sich schlecht laufen.

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. Darmstadt/Griesheim, Februar 2015.

Frau Nauses und die Insel

Frau Nauses und die Insel.

Ob Johannes Bückler jemals bei Frau Nauses war, ist nicht bekannt. Aber er war mehrmals in Semd und verprügelte dort in einem Gasthaus den bekannten Odenwald-Räuber Johann Adam Heusner. Ja, das waren Zeiten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert räuberte es an allen Ecken, so auch im beschaulichen Odenwald. Johannes Bückler kennen wir unter dem Namen Schinderhannes. Der vielleicht bekannteste und populärste Räuber Deutschlands. Vermutlich hat er diesen Ruhm eher Carl Zuckmayer und einigen verklärenden Filmen zu verdanken, als seinen historischen Taten. Der Bubi war unter den damaligen Räuberbanden eher ein kleineres Licht und hauchte schon mit 24 Jahren an einem Galgen im damals französischen Mainz sein Leben aus. Den Namen Schinderhannes verdankte er übrigens nicht den ihm zugeschriebenen räuberischen Greueltaten, sondern seinem Beruf. Er hatte Schinder gelernt, und das ist nur ein anderes Wort für Abdecker, also Leute, die für eine Verwertung von tierischen Kadavern zuständig waren. Die Gegend um Semd im Odenwald war sein Rückzugsgebiet, wenn ihm der Boden auf linksrheinischem Gebiet für seine Gaunereien zu heiß wurde. Und was hat das mit Frau Nauses zu tun? Eigentlich wenig, aber ich finde den Namen einfach zu schön, um ihn unter den Tisch fallen zu lassen. Frau Nauses ist ein winziges Dorf, das ebenso wie das erwähnte Semd heute zur Stadt Groß-Umstadt gehört.

Die schönsten und interessantesten Hügel im Land sind immer solche, die in Flaschen abgefüllt werden. In Weinanbaugebieten, und Groß-Umstadt ist ein Weinanbaugebiet, ist das eine gebräuchliche Methode, um einem Berg eine elegante Form und einen guten Geschmack zu geben. Es erleichtert zudem den Alltag, denn so eine 0,7-Liter-Flasche passt in jede Handtasche, was man von einem Berg nicht unbedingt behaupten kann. Die Gegend um Groß-Umstadt ist auch als „Odenwälder Weininsel“ bekannt. Auf 72 ha werden 32 Rebsorten angebaut. Es verwundert allerdings ein wenig, dass nur auf 3% der Rebfläche Portugieser angebaut wird.

Anfang der sechziger Jahre musste Armando Carneiro einen nicht geplanten Stop in Groß-Umstadt einlegen. Sein Motorrad streikte nach 14-tägiger Fahrt quer durch Europa. Die herrschende Diktatur in seinem Land hatte er damals ebenso hinter sich gelassen wie seinen Heimatort Santo Tirso im Norden Portugals. Die Gegend, aus der er stammte, war vom Weinbau geprägt, vielleicht waren es da einfach heimatliche Gefühle, die ihn in Groß-Umstadt bleiben ließen. Er war jedenfalls der erste Portugiese dort. Heute ist in Groß-Umstadt die größte portugiesische Gemeinde in Deutschland versammelt, und jeder achte Einwohner hat portugiesische Wurzeln, nicht wenige dieser Wurzeln reichen in die Region Santo Tirso zurück. Ein wunderbares Beispiel einer gelungenen Integration, denn kein eingeborener Groß-Umstädter würde die Portugiesen jemals als Ausländer bezeichnen, und die Portugiesen würden sich nicht als Ausländer betrachten, obwohl sie natürlich Stolz darauf sind, Portugiesen zu sein, aber das ist etwas anderes.

Wen wundert es da, dass man nach einem Spaziergang durch die Weinberge und durch die schöne kleine Altstadt mit vielen historischen Gebäuden auch anschließend gut portugiesisch Essen gehen kann. Wer den Trubel mag, dem sei das jährliche Weinfest empfohlen. In diesen Tagen kann man erleben, wie Besucher die Zahl der 20.000 Einwohner verzehnfachen und trotzdem der Wein nicht ausgeht. Ansonsten ist es wie überall in Weinbaugebieten: Es lässt sich dort ganz gut leben, wenn gerade kein Schinderhannes in der Nähe ist.

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel.

Groß-Umstadt, Odenwälder Weininsel, Oktober 2014.

Zwei Tote und handzahme Wasserratten

Zwei Tote und handzahme Wasserratten.

Ein Herbstspaziergang.

Die Vergiftungserscheinungen treten erst mit stundenlanger Verzögerung ein. Kaum hat man es sich wieder zuhause auf dem Sofa bequem gemacht, fängt dieses Brennen im Mund an. Ein Schnaps hilft da auch nichts mehr, zumal die Schluckbeschwerden schlimmer werden, gefolgt von Übelkeit und Erbrechen mit blutigen Durchfällen. Ok, mehr will ich nicht ins Detail gehen, aber noch anmerken, nur nicht alles, was man draußen so findet, gleich in den Mund zu stecken. Pfuideiwel, tun wir natürlich auch nicht. Dass hochgiftiges Teufelswerk durchaus in einer hinreißenden Verpackung am Wegrand stehen kann, kennen wir ja vom Fliegenpilz, und von der ein oder anderen Schauspielerin aus James-Bond-Filmen. Eine schöne Kandidatin ist auch die Herbstzeitlose, die Giftpflanze des Jahres 2010. In diesen Herbsttagen zeigt sie sich wieder von ihrer attraktiven Seite, streckt ihre zartblauen Blüten in die milde Luft und bedeckt damit die feuchten Wiesen. Zwei- und Vierbeiner sollten dort nicht grasen, auch wenn es noch so lecker aussieht.

Dass das letzte große Feuchtgebiet in Hessen sich mitten im Rhein-Main-Wirtschaftsraum befindet, ist schon erstaunlich. Zumal es sich um das zweitgrößte Naturschutzgebiet in diesem Bundesland handelt. Der „Mönchbruch“ besteht aus Feuchtwiesen, Sumpf- und Bruchwäldern und ist von vielen kleinen Wasserläufen durchzogen. Dieser Bereich ist in ein weitaus größeres Landschaftsschutzgebiet eingebettet, mit zusammenhängenden Waldgebieten, die sich südwestlich von Frankfurt ausbreiten. Eine nette Ecke für einen herbstlichen Spaziergang.

Die Auflistung von seltenen Vögeln, Pflanzen, kurz von allem was da kreucht und fleucht, erspare ich mir an dieser Stelle. Es ist einiges, und es hält sich meist gut versteckt. Der Publikumsrenner sind aber handzahme Biberratten, die sich im Mönchbruchweiher angesiedelt haben. Nutrias sind eigentlich in Südamerika heimisch, und keiner kann erklären, wie sie zu ihrem südhessischen Domizil kamen. Früher sind sie wegen ihrer Pelze gezüchtet worden, und als es sich nicht mehr lohnte, öffneten sich vermutlich so einige Käfigtüren. Möglicherweise ist es die Nähe zum Frankfurter Flughafen, die sie hier ausharren lassen, den Daumen hoch, immer auf der Suche nach einer Mitfluggelegenheit Richtung Heimat. Zweidrei Kilometer von ihrem Weiher entfernt, ragt der „Runway 18“ des Flughafens in den Mönchbruch hinein. Je nach Windlage wird das Gebiet im Minutentakt niedrigst überflogen. Man gewöhnt sich sehr schnell an den Lärm und manchmal schafft man es sogar, dem Passagier, der freundlich grüßend an einem Fensterplatz der Airbus-Maschine sitzt, ebenso freundlich zuzuwinken. In den 80er Jahren war man von dieser entspannten Freundlichkeit weit entfernt. Der „Runway 18“ war damals als Startbahn West bekannt und eine wichtige Wegmarke der Umwelt- und Protestbewegung in Deutschland. Es gab um den Bau der umstrittenen Startbahn sehr heftige und gewalttätige Proteste. Es wurde auf beiden Seiten erbarmungslos geknüppelt und der damalige Ministerpräsident von Hessen, Holger Börner, ließ sich zu dem bekannten Dachlatten-Zitat hinreißen: „Ich bedaure, dass mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die Fresse zu hauen. Früher auf dem Bau hätte man solche Dinge mit der Dachlatte erledigt.“ Auch nach dem Bau und der Inbetriebnahme der Startbahn im Jahr 1984, gingen die Proteste weiter. Erst ein Ereignis aus dem Jahr 1987 läutete das Ende einer der größten Bürgerprotestbewegungen der Bundesrepublik ein. Während einer Demonstration am südlichen Ende der Startbahn, in den Mönchbruchwiesen, feuerte ein Mitglied einer militanten Protestgruppe 14 Schüsse auf Einsatzkräfte der Bereitschaftspolizei. Zwei Polizisten starben und sieben weitere wurden durch die Schüsse zum Teil schwer verletzt. Heute geht es in den weiten Wiesen des Mönchbruchs weitgehend friedlich zu. Ansonsten ist es wie überall, herbstlich, nur sehr viel lauter.

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. Mönchbruchwiesen, Hessen, Oktober 2014.

Odenwald ... große Ohren

Odenwald … Große Ohren

„Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so verwunderlich aus.

Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!

Dass ich besser hören kann.“

(sagten Rotkäppchen und der böse Wolf)

Für Motorradfahrer sind die kurvenreichen Straßen des Odenwaldes offenkundig ein Paradies, das es möglichst zahlreich zu bevölkern gilt. Tatsächlich nutzen einige regelmäßig die zahlreichen Haarnadelkurven auf serpentinenreicher Strecke, um an die Tür himmlischer Gefilde zu klopfen. Bei nicht wenigen öffnet sich die Tür. Als Autofahrer, der sich mit angemessenen Geschwindigkeiten auf diesen Berg- und Talstrecken vergnügt, sind diese hochtourigen Anhängsel schon ein wenig nervig. Ein gegenseitiges Belauern, das Aufmerksamkeit erfordert. Eigentlich würde man diese Aufmerksamkeit lieber der Landschaft widmen, durch die man gerade trödelt.

Odenwald. Die Natur zeigt uns ihren grünen Mittelfinger.

Der strahlend blaue Himmel eines milden Oktobertages reicht aus, um mit einer gewissen Wehmut im Herzen (könnte ja der letzte „schöne“ Tag dieses Herbstes sein), aus dem Gehäus‘ getrieben zu werden. Man kennt das … innere Stimmen befehlen: mach dies, mach das.

Ich beschrieb es schon an anderer Stelle, dass sich vor unserer Haustür so ziemlich alles finden lässt, was für ein angenehmes Leben brauchbar erscheint. Die sanfte Mittelgebirgslandschaft des Odenwaldes gehört unbedingt dazu. Um auf die ersten hügeligen Ausläufer zu treffen, muss noch nicht einmal das Stadtgebiet verlassen werden. Aber an herrlichen Herbsttagen darf man sich auch schon mal treiben lassen (damit meine ich aber ausdrücklich nicht die Motorradfahrer, die an der hinteren Stoßstange kleben). „Treiben lassen“ ist eine durchaus befriedigende Art der Fortbewegung, und sie ist auch für Odenwaldausflüge geeignet. Irgendwo wird man schon angespült, das ist diesem „Treiben lassen“ so eigen. Begünstigt durch physikalisch-mechanische Gegebenheiten (Verbrennungsmotor), konnten wir uns sogar bergauf treiben lassen und erreichten nach kurzer Zeit den höchstgelegenen Ort im hessischen Teil des Odenwaldes. Neunkirchen.

Odenwald-Idylle in Neunkirchen

Idyllisch ging es hier aber nicht immer zu. Bekanntermaßen hat der dreißigjährige Krieg das Land in einem Umfang verwüstet, der heute kaum noch vorstellbar ist. Neunkirchen wurde 1634 von spanischen Truppen heimgesucht und geplündert. Ein Jahr später starb der letzte Einwohner an der Pest.

Das Landesgeschichtliche Informationssystem Hessen gibt mir zu Neunkirchen unter anderem folgende Auskunft:

Neunkirchen

Ortsteil, 517 m über NN

Ortstyp: Dorf

Lagebezug: 18 KM südöstlich von Darmstadt

Lage und Verkehrslage: Geschlossenes Dorf mit Berglage im Granitgebiet

Ersterwähnung: 1222

Solche Infos sind natürlich für einen kleinen Schönwetter-Ausflug nicht dringend erforderlich, aber manchmal immerhin interessant. Schließlich gibt es durchaus Leute, die ein Faible für geschlossene Dörfer mit Berglagen in Granitgebieten entwickeln. Wir hatten bei unserem Besuch Glück, denn das Dorf war offen. Ein großer Parkplatz am Ortseingang, auf dem alle 126 Einwohner gleichzeitig ihre Fahrzeuge hätten abstellen können, hatte für uns noch viele Plätze frei, die wir, so gut es ging, auch nutzten. Der Hund in seinem Fahrzeug-Verließ meldete das dringende Bedürfnis nach Bewegung. Wir gaben nach, wenn man schon mal in einem amtlich attestierten Höhenluftkurort ist, kann man die Luft auch antesten.

Im Mittelalter war Neunkirchen ein Wallfahrtsort, der die Gläubigen mit einer „heiligen“ Quelle anlockte. Die Wallfahrtskirche existiert nicht mehr, und die „heilige“ Quelle ist versiegt. Reste des Brimboriums sind, meines Wissens jedenfalls, auf dem Gelände des evangelischen Pfarrhauses zu finden, vielleicht hat der Pfarrer seinen Fernsehsessel drübergestellt.

 

Im Odenwald (Geo-Naturpark Bergstraße-Odenwald und Naturpark Neckartal-Odenwald) gibt es rund 10.000 Kilometer markierter Wanderwege, und es ist eigentlich ein leichtes Unterfangen, auf einen oder mehrere dieser Wanderwege zu treffen, wenn man an einer beliebigen Stelle losmarschiert. Sehr viel schwieriger ist es, dort auf Niemanden zu treffen. An manchen Ecken ist einfach viel los, insbesondere an Wochenenden, über die sich ein verheißungsvoller blauer Himmel wölbt. Ohne uns als menschenscheue Gesellen bezeichnen zu wollen, wachsen doch gemischte Gefühle in uns heran, wenn wir gleich mehreren Kegelclubs auf Wanderausflügen begegnen. Auf den Hund ist da auch kein Verlass, und anstatt tüchtig zu kläffen, wenn eine solche Hundertschaft vorbeizieht, verkriecht er sich lieber hinter unsere Rücken.

Auch die einheimischen Bewohner des Waldes zeigen sich. Ein kleines Reh badet im kristallklaren Wasser eines Baches, von denen  dort einige zu finden sind. Im Bereich der Neunkirchner Höhe quellen vier Bäche aus dem Boden hervor, die als Namensgeber vieler Orte im Odenwald herhalten mussten.

Wenig später läuft uns auch noch ein Wildschwein über den Weg. Ja, es ist ziemlich viel los im Odenwald. Zudem sahen wir noch 3 Mountain-Biker, 4 Jogger und 3 Personen, denen sowohl das Biken, als auch das Joggen gut getan hätten.

 

Trotz regen Treibens ist Neunkirchen kein schlechter Ausgangsort, um eine Wanderung oder einen Spaziergang zu beginnen. Man startet schon ziemlich hoch am Berg und muss nicht erst hochkraxeln, ein unschätzbarer Vorteil. Um vom höchstgelegenen Dorf zur höchsten Stelle im hessischen Teil des Odenwaldes zu gelangen, der Neunkirchner Höhe, muss noch ein Höhenunterschied von gut 90 Metern bewältigt werden. Das war zu schaffen, wenn auch unter Protest meinerseits. Ich denke immer, dass die Welt als flache Scheibe mir wesentlich sympathischer wäre.

Hier handelt es sich vermutlich um die bemooste Grabanlage eines einsamen und erschöpften Wanderes, der seinen Weg unterbrechen musste, weil er am Berg verstarb.

 

Die Bäume beginnen lichter zu werden, und wenn der Boden sich mehr mit Gräsern als mit Blättern bedeckt, ist man dem Höhepunkt schon ziemlich nahe gekommen. In den Bergen ist es ein gutes und untrügliches Zeichen, wenn man auf der gegenüber liegenden Seite hinuntersehen kann. Mein Erschöpfungszustand war noch im unteren Level, obwohl ich einen Hörsturz befürchtete, weil sich ein Brummen in meinem Gehörgang festsetzte. Mit jedem weiteren Meter, den wir gingen, wurde das Brummen deutlicher, und meine Beruhigung, es könnte sich doch um das schöne Blätterrauschen des herbstlichen Waldes handeln, erwies sich als falsch. Ein großes motorbetriebenes Ohr drehte gleichmäßig über unseren Köpfen seine Runden.

Große Ohren drehen sich auch im Odenwald.

 

Klar, NSA und BND hören flächendeckend die Wanderwege des Odenwaldes ab und belauschen die Gespräche unbescholtener Wanderer, … und verhindern so vielleicht einen Anschlag auf die Gemeinschaftsgrillhütte in Ober-Ostern. Natürlich waren wir einigermaßen enttäuscht, dass hier kein Geheimdienst lauschte, sondern dieser seltsame Radarturm, der mitten im Wald sein großes rotes Ohr (Parabolantenne) drehend, der Flugraumüberwachung dient. Betrieben wird die Anlage von der Deutschen Flugsicherung (DFS). Obwohl die umlaufenden Fenster am Turm und auch die Betriebsanlagen auf anderes schließen lassen, ist in der Regel keine Menschenseele dort. Seit Ende der neunziger Jahre wird der Radarturm automatisch betrieben und die Daten ins nahegelegene Langen übermittelt, dort ist die Zentrale der DFS. Wie die jetzt allerdings die Gespräche der belauschten Wanderer ausfiltern, wissen wir auch nicht zu sagen.

Wir wussten aber, dass wir noch immer 13 Höhenmeter vor uns hatten. Direkt am Gelände der DFS hat man die Höhenangabe sicherheitshalber gleich in Stein gemeißelt. 592 m über NN ist dort zu lesen.

Ein paar historische Grenzsteine weiter war dann der Höhepunkt erreicht. Die Neunkirchner Höhe mit ihren 605 m über NN. Ein wenig darf man noch dazu rechnen, wenn man den 34 Meter hohen Kaiserturm, der dort oben steht, besteigt. (Das geht leider nur am Wochenende, wenn die Gaststätte, die ebenfalls in diesem Aussichtsturm untergebracht ist, geöffnet hat.) Der Ausblick ist natürlich grandios und man hat, klare Sicht vorausgesetzt, weite Blicke über die Rheinebene bis in die Pfalz, kann die Hochhäuser von Frankfurt zählen und sehen, was im Taunus so los ist. Ja klar, den Odenwald kann man auch überblicken.

Ansonsten ist es wie überall: Im Wald sieht man nur Bäume.

 

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. Neunkirchen/Odenwald, November 2013

Maria Einsiedel

Die Gnadenkapelle „Maria Ansidl bei Jernsem“

Maria Einsiedel

Seelenheil und Kerzenschein

Autsch, sagte die Pilgerin, als sie sich die Hand an einer der zahlreichen Kerzen verbrannte, die das finstere Mittelalter erhellten.

Uff, isch hab endlich ferddisch, sagte der Kerzenanzünder, als nach vielstündiger Arbeit alle Kerzen im Haus brannten.

(Frei interpretiert nach ZDF)

Dieses Kreuz schleppten wir nicht mit uns herum. Es war schon vor Ort.

 

Seitdem das Automobil erfunden ist, gibt es eigentlich keinen wirklich nachvollziehbaren Grund mehr, zu Fuß und auf mühseligen Wegen halb Europa zu durchlaufen. Trotzdem machen sich jedes Jahr unzählige Leute auf einen Weg, an dessen Ende das Grab von Apostel Jakobus zu besichtigen ist. „Ich bin dann mal weg“, Jakobsmuscheln suchen, hat in Deutschland seit einigen Jahren Hochkonjunktur. Ein Pulk auf der Straße, den wir anonym befragten, bestätigte dies. 30% des Pulks sind schon der Muschel gefolgt und gedenken nun a) ein Erlebnis-Buch, b) einen Reiseführer, c) ein Foto-Buch oder/und d) sogar einen Film darüber zu veröffentlichen. Weitere 40% des Pulks wollten sich in den kommenden Jahren auf die Socken machen, einschließlich a) – d). (Die verbliebenen 30% des befragten Pulks, verstanden entweder die Frage nicht, oder hatten dazu keine Meinung, bzw. wollten zunächst einmal die Meinung der anderen hören). Vermutlich gibt es in Europa keinen Weg, der genauer beschrieben ist, als der Jakobsweg, der in Santiago de Compostela endet. Pilgern ist in den vergangenen Jahren wieder sehr populär geworden.

Der Hund sucht die Gegend nach verwertbaren Reliquien ab.

 

Wir mögen solche populären Trends und wir stehen auch immer an der Straße, wenn eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird und winken mit einem Fähnchen. Aber beim Pilgern geht es natürlich um mehr, es geht um unser Seelenheil. Wer mag dies schon leichtfertig durch Nichtstun auf dem heimischen Sofa aufs Spiel setzen? Wir jedenfalls nicht. Allerdings muss ich auch eingestehen, dass ich auf Bequemlichkeitsentzug relativ unleidlich reagiere. Deshalb war es ein leichtes, Wallfahren wörtlich zu nehmen und dafür das Automobil zu benutzen. Am von uns ausgewählten Tag war noch einiges andere zu erledigen, und so mussten ein paar Stunden Pilgern für unser Seelenheil ausreichen. Der nächstgelegene Wallfahrtsort außerhalb unserer Stadtmauer ist im hessischen Ried bei Gernsheim zu finden und heißt Maria Einsiedel. Der viertelstündige Weg vom Wohnsitz zur Einsiedelei ist auf befestigten Straßen relativ sicher. Der letzte Kilometer, ein betonierter Feldweg, wird aber ein wenig schmal, und man muss aufpassen, dass zu Fuß gehende Pilger nicht unter die Räder geraten. Uns hinderte tatsächlich eine Pferdekutsche daran, mal richtig Gas zu geben.

Der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Dieser hier wurde etwa 10 Kilometer nach Osten versetzt und ist nun der höchste Hügel an der Bergstraße.

 

Aus meteorologischer Sicht war es ein einwandfreier Wintertag, an dem wir uns auf den Weg gemacht haben. Der Himmel hatte ein zartes Blau als Farbe gewählt. Am Horizont des flachen Landes sah man Dunst über dem Boden liegen, der die Gebäude als graue Schemen zeigte, die zu schweben schienen. Die tiefstehende Sonne blendete und die Temperaturen waren angenehm. Rundherum ein Tag, den man sich für mehrere Tage hintereinander wünschen würde, und der sich hervorragend dafür eignete, mit der katholischen Kirche in Kontakt zu treten. Schließlich wollten wir auch unser selbstgebasteltes Pilger-Quittungsbuch abstempeln lassen. Immer gut, etwas Schriftliches in der Hand zu haben, wenn es darauf ankommt. Das dachte Nietzke auch und hatte sich einen Stapel Ablassbriefe unter den Arm geklemmt, die er vor Ort verticken wollte. Wie er an die Unterschriften der beiden lebenden Päpste kam, wissen wir nicht, sie befanden sich jedenfalls auf dem schmucken Einblattdruck. Ein wenig klein geraten am unteren Rand, während Nietzke es sich nicht nehmen ließ, seine eigene Unterschrift großzügig darüber zu setzen. Unser Einwand, dass solche Ablassbriefe nicht vom Papst unterschrieben werden, sondern nur von nachrangigen Chargen, wie etwa Kardinälen, wurde unwirsch zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter beachtet. Nietzke war der Meinung, dass es letztlich um seine Unterschrift ging, und nicht um die der Päpste, die er bestenfalls als verkaufsträchtiges Beiwerk empfand. Schließlich kommt es aber nicht alle Tage vor, dass zwei lebende Päpste in irdischen Gefilden wandeln. Normalerweise passiert so etwas, wenn der katholischen Kirche die Spaltung droht.

Einer der kleinen Wasserläufe am Rande der Einsiedelei. Wir haben vorsichtshalber einige Flaschen mit dem Wasser gefüllt. Vielleicht taugt es ja als Pilgerwasser.

 

1409 gab es so eine Situation, in der sich drei Päpste darum stritten, wer denn nun der richtige und einzige Vertreter für die göttliche Allmacht im finsteren Jammertal des irdischen Daseins sei. Kirchenpolitik ist halt auch immer Machtpolitik, und damals standen hinter jedem der drei auch die stützenden Hände von Königen und Fürsten. Ohne den göttlichen Segen der Kirche war es damals ein sehr schwierigeres Unterfangen, sich seine weltliche Allmacht zu sichern. Um die Einheit der Kirche, und damit auch ihre ungeteilte Macht, wiederherzustellen, traf man sich 1414 im beschaulichen Konstanz zu einem vierjährigen Plausch. Mit dem Ergebnis, dass die drei Päpste abgesetzt wurden, was aber nicht jeder der bisherigen Päpste auch sofort einsehen wollte, und ein einziger neuer Papst wurde gewählt, der in Zukunft seine göttliche Wahrheit verkünden durfte. Damit keine Langeweile aufkam, schließlich sind vier Jahre eine lange Zeit, verurteilte das Konstanzer Konzil zwischendurch drei Kirchenrebellen als Ketzer. Zwei von ihnen, die Böhmen Jan Hus und Hieronymus von Prag, wurden an Ort und Stelle verbrannt. Der dritte war dummerweise schon seit Jahrzehnten tot. Allerdings hinderte dieser Umstand die Kirchenvertreter nicht daran, seine Knochen auszubuddeln und zu verbrennen. Ordnung muss schließlich sein.

Für alle, die schon ein klein wenig gelangweilt sind: Hier ein Suchbild zum Zeitvertreib. Wer findet den Vogel? Die Lösung ist auf der Rückseite zu finden.

 

1415, als König Sigismund, der Initiator des Konstanzer Konzils, dem Kirchenrebell Jan Hus ein fröhliches „Ätsch, war gelogen“ zurief, nachdem er ihm vorher freies Geleit versprochen hatte, wurde wohl schon zur Kapelle Maria Einsiedel gepilgert. Der Grund dafür war und ist eine gotische Pieta. Ein Gnadenbild, das um 1400, wohl in der Werkstatt eines ländlichen Bildschnitzers entstanden ist. Die Figur stellt die Gottesmutter dar, die den Leichnam des Sohnes im Schoß hält. Ursprünglich stand das Gnadenbild in der Pfarrkirche von Gernsheim. Dort verschwand die Figur eines Nachts auf unerklärliche Weise und wurde in einem Holunderstrauch wiedergefunden. Zurückgebracht in die Kirche, verschwand sie abermals in den Holunderbusch. Das wiederholte sich einige Male, bis man sich entschloss, an der Stelle, wo der Holunder wuchs, eine Kapelle für die Pieta zu errichten. Seit dieser Zeit ist die Figur zufrieden mit ihrem Platz, und sie blieb bis heute auf dem Hochaltar.

Um die Kapelle ist ein Kreuzweg eingerichtet worden. An den einzelnen Stationen, gibt es Bildstöcke aus Terrakotta zu sehen.

 

Mit einem Ablassbrief aus dem Jahre 1493 wurde fleißig Geld gesammelt für diese, wohl mittlerweile ein wenig baufällig gewordene Kapelle („Ecclesia Sancte Maria“ in Ansidl). Den Ablassbrief unterschrieben sage und schreibe 16 Kardinäle, darunter auch die späteren Päpste Julius II und Leo X. Der Brief gewährte den Wallfahrern großzügige 100 Tage Sündenfreiheit. (Nietzke zeigt sich dagegen knausriger bei seinem Ablasshandel, – 30 Tage, im Abo aber 50% Preisnachlass -, letztlich ist die Sündenanfälligkeit in unseren Tagen aber auch höher einzuschätzen). Bis zum Jahr 1508 wurde an den ursprünglichen spätgotischen Chorraum ein Kirchenschiff angefügt. Im Wesentlichen ist die Kapelle bis heute so erhalten, lediglich ein Vorbau mit vier Säulen und eine Seitenaufgang kamen erst später hinzu.

Auch ganz schnucklig. Kleine Andachtskapelle an dem Pilgerweg.

 

Die Wallfahrten waren längst eingebürgert und bekamen einen neuen Aufschwung, als ein zweites Gnadenbild nach Maria Einsiedel kam. Natürlich gibt es auch dazu eine Legende. Im böhmisch-pfälzischen Krieg (Von 1618-1621 führte man diesen Krieg, der eigentlich als Auslöser des dreißigjährigen Krieges gilt. Der zweihundert Jahre vorher in Konstanz verbrannte Kirchenrebell Jan Hus spielt darin eine große Rolle, bzw. seine Anhänger, die Hussitten; und seine Ideen, die man damals in Konstanz nicht mit verbrannt hatte) bargen lutherische Soldaten aus den brennenden Ruinen eines böhmischen Dorfes eine Figur. Diese hölzerne „böhmische Madonna“ war zum allgemeinen Erstaunen in der ringsherum glühenden Holzkohle völlig unversehrt geblieben. Ein Hauptmann brachte die Figur an sich und schenkte sie später, als Dank für Kost und Logis, einem Freiherrn. So kam die Figur an die Bergstraße und ins angrenzende Ried. Nach dem Tod des Freiherrn versenkte seine Witwe die Figur in einem Brunnen. Nicht ohne Not, denn sie war auf der Flucht vor den Schweden, … der dreißigjährige Krieg tobte, und die Schweden auch. Als die Witwe schwer erkrankte, gelobte sie, falls sie wieder genesen sollte, die Figur nach Maria Einsiedel zu stiften. Klar, sie kam wieder auf die Beine, und die Figur der „böhmischen Madonna“ ans Tageslicht zurück. Die drei Jahre im Brunnen überstand sie, wie sollte es auch anders sein, völlig ohne Schaden. 1625 kam sie zuerst nach Gernsheim, und am 2. Juli 1650 wurde sie in einer feierlichen Prozession nach Maria Einsiedel überführt. Bis heute wird am ersten Sonntag im Juli eine große Wallfahrt veranstaltet. Ja, so war das damals.

Quälend lange Schatten zeichneten sich auf unserem Fluchtweg ab.

 

Heute weisen große Schilder darauf hin, dass es sich um eine Ruhezone handelt, wenn man um die Kapelle wandelt. Nietzke sah das anders, und baute seinen Verkaufstand direkt an einem Außenaltar auf, der sich vor der Kapelle befindet. Es herrschte ein reges Interesse an den Ablassbriefen, allerdings wurde Nietzke ein Platzverweis zuteil, weil er es nicht unterlassen konnte, seine Ware marktschreierisch anzupreisen. Obwohl wir nichts damit zu tun hatten, wurden auch wir weggeschickt, ohne dass uns ein Stempel in unser Quittungsbuch gedrückt wurde. Vielleicht lag das auch an der Flasche Bier, die ich in der Hand hielt.

Ansonsten war es vor Ort, wie fast überall im Ried: Feucht bis nass und ziemlich flach.

 

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. Gernsheim/Rhein, Ried.

Flur 7, Flurstück 500/1, Rebmuttergarten

Starkenburg oberhalb von Heppenheim. 

Flur 7, Flurstück 500/1, Rebmuttergarten

Traditionell findet am 1. Mai an der Hessischen Bergstraße die Weinlagenwanderung statt. Meist finden sich so um die 20.000 Leute ein, die daran teilnehmen und auf einer gut 20 Kilometer langen Strecke durch die Weinberge kraxeln. Weite Aussichten über das hessische Ried oder den Odenwald sind garantiert. Tiefere Einsichten gewährt indes der Blick ins Weinglas, denn die Bergsträßer Winzer haben natürlich zahlreiche Verpflegungsstationen mit ihren Produkten aufgebaut.

Der Autor, der gewöhnlich nur bei angenehmer Witterung seinen Fuß vor die Haustür setzt, hatte auch schon die Gelegenheit, an diesem Trubel teilzunehmen. Bei schönstem Sonnenschein gelang der Aufstieg in die Weinberge ohne Murren, und nach einigen Metern gelangte er an die erste Verpflegungsstation eines örtlichen Winzers. Diese Station wurde auch in den folgenden Stunden nicht mehr verlassen, weil er nach kürzester Zeit so breit war, dass es ihm unmöglich erschien, eine weitere Strecke auf schmalen Weinbergwegen zurückzulegen. Selbstverständlich auch aus Rücksicht auf andere Wanderer. Na ja, man kennt das … Wein, Weib und Gesang.

Traditionell am 2. Mai besucht Nietzke die Wege in den Weinbergen, um liegengebliebene Weinrückstände zu beseitigen. Das Wetter war diesmal brauchbar, also begleiteten wir ihn.

Die Hessische Bergstraße ist eines der kleinsten Weinbaugebiete in Deutschland. Ihre Weine wurden lange Jahre der Badischen Bergstraße zugeschlagen, die sich geografisch südlich davon anschließt. Nach viel Gezerre wurde sie 1972 eigenständig. Die Römer bauten hier schon vor gut 2000 Jahren Wein an. Altes Kulturland eben. Im südlichsten Stadtteil der hessischen Hauptstadt Darmstadt gab es im Jahr 1655 noch über 40 Weinbauern. Obwohl das Gesöff von damals sicher nicht mit unserer heutigen Vorstellung von Weingeschmack in Einklang zu bringen wäre. Vielleicht würde es heute als Weinessig verkauft, voller zitroniger Aromen mit einem leicht bitteren Abgang. Seit ein paar Jahren wird auch hier wieder Wein angebaut. Es ist wohl der nördlichste Weinberg der Hessischen Bergstraße, obwohl, hier von einem Berg zu sprechen, ist zu viel des Guten. Ein Bürgerverein will an die alte Weinbautradition vor Ort anknüpfen und hat dieses Projekt initiiert. In leichter Hanglage dürfen nun 1300 Rebstöcke wachsen. Der Wein ist nur für den Hausgebrauch gedacht und darf nicht verkauft werden. Das Weinbauamt hat ein wachsames Auge auf Rebflächen und Weinkontingente. Nicht jeder, der einen geeigneten Hügel zur Verfügung hat, darf darauf Wein anbauen, jedenfalls nicht, wenn er das Zeugs anschließend verkaufen will.

Ein paar Kilometer südlich beginnt aber der richtige Weinbau auf richtigen Weinbergen. Und mit richtigen Winzern, die ihre vollen Flaschen auch verkaufen dürfen, was ihnen auch ganz gut gelingt.

Nachdem wir unterwegs Nietzke abgesetzt hatten, der mit seiner Suche begann, gerieten wir ein wenig in sentimentale Stimmung und wollten der Reblaus gedenken. Ein geeigneter Ort schien uns ein Weinberg in Heppenheim zu sein. Heppenheim ist die größte Weinbaustadt an der Hessischen Bergstraße. Einigen wird sie durch den mehrmaligen Bobby-Car-Weltmeister Vettel bekannt sein, der in diesem Städtchen aufwuchs und dort auch das Grinsen lernte. Mittlerweile wohnt er in der Schweiz, weil das einfach günstiger ist, und außerdem sind die Berge da höher, was den Einsatz der deutschen Steuer-Kavallerie naturgemäß erschwert.

Flur 7, Flurstück 500/1, Darmstädter Straße 133 in Heppenheim. Dort befindet sich der Rebmuttergarten. Ohne die Reblaus gäbe es den nicht. Natürlich hat jeder schon von der großen Reblaus-Katastrophe gehört, die im 19. Jahrhundert den europäischen Kontinent erreichte. Hier noch einmal in kurzen Worten zusammengefasst (man kann sich ja nicht alles merken): Die Reblaus, eine nordamerikanische Verwandte der Blattlaus, wurde durch Rebstöcke von der amerikanischen Ostküste nach Frankreich eingeschleppt. Ab 1863 breitete sie sich in fast allen europäischen Weinbaugebieten aus. In Frankreich wurden 2,5 Millionen Hektar Rebfläche vernichtet. 1874 klopfte die Reblaus auch in deutschen Weinbaugebieten an die Tür. Das Weinbaugebiet Baden, zu dem damals die Hessische Bergstraße gehörte, wurde von der Laus, die damals noch weitgehend zu Fuß unterwegs war, etwa 1915 erreicht.

Der  staatliche Rebmuttergarten in Heppenheim wurde in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut. Er hatte die Aufgabe reblausresistente Reben zu züchten und zu vermehren. Durch eine Kombination von amerikanischer Unterlagsrebe und aufgepfropfter europäischer Rebe wurde der Reblaus der Garaus gemacht. Man könnte nun sagen, dass die Wurzel der europäischen Weine amerikanischer Natur ist.

Heute erinnert nur die Aufschrift an dem Gebäude an die ursprüngliche Funktion. Seit 1977 wird dort auf 35 Hektar Rebfläche überwiegend Weißwein angebaut. Dem Wein wird eine fruchtige, blumig feine und nachhaltige Note nachgesagt. Das ist doch schon mal ganz in Ordnung.

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. Heppenheim, Bergstraße, Mai 2013

Regionaler Absacker

Eine Büffelherde zieht über die weite Graslandschaft des nördlichen Oberrheingrabens.

 

Regionaler Absacker

Nachdem gestern Mittag die Temperatur auf sagenhafte 24,7 Grad Celsius angestiegen war (gemessen am Küchenfenster über der Heizung), beschlossen wir spontan, einen kleinen Ausflug ins Freiland zu unternehmen. Dabei hatten wir durchaus die Vorstellung, mit ein wenig Glück, wenn nicht gar den Frühling, so doch wenigstens einige Vorboten von ihm begrüßen zu dürfen. Allerdings wurden unsere recht naiven und schwärmerischen Vorstellungen vom Treiben der Natur, das kann ich vorwegnehmen, in keiner Weise erfüllt. Weder Frühling, noch dessen Vorboten ließen sich blicken. Das einzige blaue Band, das durch die Luft flatterte, war der Spanngurt des Transporters einer örtlichen Schreinerei.

Hessische Hochgebirgsregion. 

Da wir mit allen Niederungen einigermaßen vertraut sind, erschien es uns geboten, einmal in die Bergwelt aufzusteigen. Jene Erhebungen, in denen sich die Erdgeschichte sichtbar manifestiert hat, und die, dunkel am Horizont aufgetürmt, den Blick in die Ferne verstellen. In dieser unwirtlichen Grenzregion zwischen Himmel und Erde, wo sich Steinbeißer und Krüppelkiefer „Gute Nacht“ sagen, wird der Mensch seltener.

Wir staunten also nicht schlecht, als uns eine komfortabel asphaltierte Straße den Weg zum 339,7 Meter hohen Gipfel wies. Normalerweise ist in dieser Höhe nicht mehr mit intelligentem Leben zu rechen, und doch schienen sich einige berucksackte Abenteurer in braunen Outdoor-Jacken und Hosen durch die widrigen Umstände nicht von ihrem Tun abhalten zu lassen. Wir konnten unser Kraftfahrzeug an einem steilen Felsvorsprung unterhalb des Gipfels ablegen. Nietzke, der uns begleitete, war sehr begeistert von den Abgründen ringsherum. Auch die Höhe wusste er zu schätzen, so sei er näher bei sich selbst.

„Boah, wie bei Prinz Eisenherz!“ Schloss Auerbach. 

Unsere sehr vage Hoffnung, als erste zum Gipfel zu gelangen, wurde jedoch durch eine veritable Burganlage enttäuscht. Es waren offensichtlich schon andere vor uns hier gewesen, und hatten sogar einige massive Gebäude hinterlassen. „Das ist ja wie bei Prinz Eisenherz“, rief ich hocherfreut und glückselig lächelnd in die Runde.

„Beziehst du dich etwa auf diesen historisch äußerst ungenauen Comic-Strip, den der Amerikaner Hal Forster 1937 erfand?“, fragte Nietzke, „Einen Comic, dem sogar die Sprechblasen abhanden kamen, und dessen Held in einer albernen Topffrisur seine Kämpfe ausfechten musste? Heh, wir leben im Land von Wolfram von Eschenbach und Neidhart aus dem Reuental und nicht im Land von Mickey Mouse!“

„Klar, Neidhart, den kenne ich doch“, antwortete ich, „das ist doch der mit dem Scheißhaufen.“

In zugigen Burganlagen war der Winter vermutlich kein Vergnügen. Es war saukalt und es stank sicher zum Himmel, der sich meist genau über der Burg befand. Auch als Burgherr hatte man es in der Zeit, die man heute gerne als Mittelalter zusammenfasst, nicht leicht. Gute Unterhaltung war rar, der Weg zum nächsten Plattenladen weit und gerade auch im Winter recht mühselig.  Gegen Kost, Logis und amouröse Abenteuer buchte man sich Dichter und Minnesänger, die für Kurzweil sorgten. Neidhart aus dem Reuental war einer von diesen Minnesängern, und er war zu seiner Zeit der populärste und bekannteste deutschsprachige Liedermacher seiner Zunft. In seinen Lieder geht es um die Liebe, das ist klar, und um heftige, aber geistreiche Zoten, mit viel Derbem am Rand. Er ist verantwortlich für einen gewissen Kulturcrash, wenn er die heile höfische Welt auf die Gegenwelt der Bauern prallen lässt.

Die Wintertage waren lang, und man freute sich auf den Frühling. Und den Sommer, in dem es zwar auch zum Himmel stank, aber bei milderen Temperaturen ließ sich leichter Abwechslung finden. Zum Beispiel beim Bauernquälen oder ähnlichen Belustigungen, die damals üblich waren. Während wir heute als Vorboten des Frühlings die Krokusse zählen, die aus der Schneedecke ihre Köpfe heben, war zu damaliger Zeit das Veilchen ein Zeichen des nahenden Frühlings, des Sommers, der Hoffnung.

Im „Veilchenlied“, ein Schwank aus der Feder von Neidhart, beschreibt er in Ich-Form seinen Veilchenfund.

„Urlaub hat der Winter

und auch der kalte Schnee!“

… so lautet die erste Zeile des Liedes, und das wünschen wir uns ja auch gerade. Unser Ritter Neidhart entdeckt das erste Veilchen auf einer Wiese und bedeckt es mit seinem Hut, um seinen glücklich machenden Fund der Herzogin, die ihn für allerlei gemietet hatte, präsentieren zu können. Während sich die Herzogin und ihr Hofstaat mit viel Gefiedel und Gedudel auf den Weg machten, um das Veilchen zu bestaunen, pflückten Bauern, die Neidhart beobachtet hatten, es und hinterließen stattdessen einen dicken Scheißhaufen unter dem Hut. Neidhart forderte die Herzogin auf, den Hut zu lüften und den Sommer-Boten zu bestaunen. Sie staunte tatsächlich nicht schlecht, und Neidhart war zu Tode betrübt. Um seinen tiefen Schmerz ein wenig lindern zu können, hackte er daraufhin 32 (sic!) Bauern das linke Bein ab.

„Verflucht sei das Sommerzeichen,

das Neidhart zu erst gefunden hat!

Nun müssen wir den Schmerz erdulden.

Verflucht sei das Veilchen!

Nie mehr können wir nun tanzen!“

… so lauten die letzten Zeilen, in der ein betroffener Bauer sein Leid klagt.

Ja, die Bauern waren damals hart im Nehmen, und das Einzige, das sie an ihrem fehlenden Bein störte, war die Tatsache, nun nicht mehr tanzen zu können.  Ach, das erinnert mich irgendwie an den schwarzen Ritter.

Schloss Auerbach. 

Der Berg, auf dem wir standen, war der Auerberg, und der gehört zur hessischen Bergstraße. Die Burganlage heißt Schloss Auerbach. Sie ist eine der größten Burganlagen in Südhessen, das nicht gerade arm an Burgen ist. Auf der (geschätzt) zwanzig Kilometer langen Anreise, ab heimischer Stadtmauer, kamen wir an zwei weiteren vorbei. Eine davon erwähnten wir schon mal hier. Neidhart war übrigens auf keiner dieser Burgen zugange … und wir fanden auch kein Veilchen, allerdings hinterließ der Hund trotzdem einen Haufen.

Das Besondere an der von uns besuchten Burganlage ist, dass hier kein Gras über das Mittelalter wächst, sondern ein ganzer Baum. Der lebt dort, und zwar seit über 300 Jahren, wo eigentlich nichts wachsen kann. Auf der Schildmauer hat er sich im Mauerwerk festgekrallt und sieht aus wie ein etwas zu groß gewachsener Bonsai.

Nachtrag: Wer sich für den guten Neidhart aus dem Reuental und für seine Zeit interessiert, dem sei ein Buch von Dieter Kühn empfohlen: „Neidhart aus dem Reuental“.

Wer sich dann immer noch interessiert, dem seien zwei weitere Bücher von Dieter Kühn empfohlen: „Ich Wolkenstein“ und „Der Parsifal des Wolfram von Eschenbach“. Dann ist auch die Zeit bis zum Frühjahr 2014 gut genutzt.

 

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. Bergstraße / Schloss Auerbach, März 2013.

haushundhirsch

illustrative dinge

dieter motzel