Meerzeugs

Meerzeugs

Der Strand war menschenleer. Ein feiner, unangenehmer Nieselregen brachte den Gedanken, sich am Wasser bewegen zu wollen, schnell zum Erlöschen. Einige Cafés jenseits der Strandpromenade wären sicher für einige verlockender gewesen, aber sie hatten alle geschlossen. Einzig vor einem Hotel war so etwas wie Betriebsamkeit zu spüren, ein Bus hielt davor. Auf die Entfernung betrachtet, bestand seine Fracht aus leuchtender Funktionskleidung, die sich sehr schnell bewegte, um in das trockene Hotelfoyer zu gelangen.

Am vergangenen Tag und schlimmer noch in der Nacht, hatte hier ein Sturm mächtig geblasen und die Schaumkronen der aufgewühlten See am Ufer verteilt. Der gelbe Schaum, den die Gischt auf den zu Hügeln aufgetürmten Tang und Algen hinterließ, garniert mit allerlei Plastikmüll, zeichnete spiegelbildlich am Ufer die Wellen ab, die alles hierhin transportiert hatten. Gestaffelte Wälle für alles, was im Meer seinen Halt verloren hatte. Dazwischen lagen Unmengen an Schalentieren als lohnendes Bankett für spitze Schnäbel. Unter den Schuhsohlen knackten feine Panzer und der Kalk von Muscheln. Hin und her geschoben von der Kraft des aufgewühlten Meerwassers, gab der feine Sand des Strandes lange verschwundene Dinge frei, und ließ andere wieder für lange Zeit verschwinden, vielleicht auch nur bis zum nächsten Sturm.

Ob die tote Möwe nun freigespült, oder aber gerade vom Wasser vergraben wurde, kann wohl keiner so genau sagen. Die nassen Federn boten dem Wasser keinen Widerstand mehr, und obwohl er es augenscheinlich nicht war, wirkte der Körper mit den antennenartigen abstehenden Federn arg zerrupft.

Auf einem Holzsteg der ins Meer hinaus ragte, und vor dessen Betreten ausdrücklich per Schild gewarnt wurde, hatte sich eine junge Möwe niedergelassen, um jeden den Zugang zu erschweren. Resolut und sehr lautstark, nahm sie ihre Aufgabe sehr ernst. Nach einem minutenlangem Gezeter war sie so heiser, dass nur noch ein leises Krächzen zu vernehmen war. Dem Meer war auch die Puste ausgegangen, und nur der Wind war noch bei der Arbeit und riss ein Loch die Wolkendecke.

 

Text und alle Abbildungen: Dieter Motzel. Oktober 2017 Dänemark

Böser Hund

Böser Hund

Der kahle Kopf war wohl keine Extravaganz von ihr, sondern eher die sichtbare Auswirkung einer Chemotherapie. Zumindest vermutete ich es. Dass ich den Köter mit ihr an der Leine lange Zeit nicht gesehen hatte, sprach dafür. Klein und zäh war sie nun geraume Zeit wieder mit schnellen Schritten unterwegs, um ihren Hund das Revier abpinkeln zu lassen. Ihr Mann, ein langer Lulatsch, der sie zwei Köpfe überragte, folgte ihr meist mit einigen Schritten Abstand. Wenn ich es mir recht überlege, sah ich sie nie miteinander gehen, eigentlich nur hintereinander mit entsprechender Lücke zwischen sich.

Als Hundehalter kennt und begegnet man sich im Viertel, oder man vermeidet es, so gut es geht, indem man die Straßenseite wechselt, einen anderen Weg einschlägt, um Gekläffe zu entgehen. So hielt sie es auch mit mir. „Der ist böse!“, ihr Zeigefinger deutete dabei unbarmherzig auf mich. Ein abrupter Richtungswechsel vollzog sich sogleich, dem Mann und Hund folgen mussten, ob sie wollten oder nicht. Ich wäre wenig verwundert gewesen, wenn sie sich danach bekreuzigt hätte, aus Dank, dem Bösen nicht in die Augen sehen zu müssen.

Als wir uns vor Jahren zum ersten Mal begegneten, rannte sie förmlich, mit einem kläffenden tiefergelegten Hündchen an der Leine voran, auf mich zu. Nach der oft gehörten Devise, der will nur ein bisschen spielen, wuselte das Ding an ihrer Leine abwechselnd zwischen den Beinen meines Hundes und mir herum. Womit ich noch ganz gut leben konnte, machte meinem Hund, begrenzt durch die Leine, zunehmend zu schaffen. Er knurrte mal vernehmlich und zeigte dem Ding seine Zähne. Nachdem sie begriffen hatte, dass die Bereitschaft meines Hundes, an diesem Tag zu spielen, gegen null tendierte, zog sie ohne ein weiteres Wort von dannen. Nur war ich für sie nun der Inbegriff des Bösen. Seither sind wir uns noch sehr oft nicht begegnet.

Nur die schnelle Bildung eines Hohlkreuzes und ein Ausfallschritt verhinderten, dass ihn die wütende Wucht des Trittes am Allerwertesten traf. Er hielt sich wacker aufrecht, verlor aber ein wenig von seiner Größe. Vermutlich wäre mir das Geschimpfe und Gezeter entgangen, wenn es nicht eine so beeindruckende Lautstärke entwickelt hätte. Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich ihren Tritt, der sie fast selbst aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, begleitet von einem lauten: „Du Arschloch!“. Traumatisiert von der Situation hielt selbst ihr ewig kläffender Hund die Klappe. Der Mann schwieg ebenfalls, und zum ersten Mal überhaupt sah ich ihn vorauseilen. Obwohl es wohl eher eine Flucht war, denn Entsetzen und Angst waren sichtbar. Nachdem das Trio aus meinem Blickfeld verschwunden war, sah ich sie lange Zeit nicht mehr.

Ich hätte einen Film drehen können – neue Einstellung, gleiches Szenenbild: mein Blick aus dem Fenster am Schreibtisch sitzend. Ihre schnellen Schritte hatten sich in einen zögerlichen Gang gewandelt. Sie war allein. Ihr Gesicht hatte einige Schwellungen vorzuweisen und ein blaues Auge leuchtete. „Der Böse“, hinter seinem Schreibtisch sitzend, konnte sich einer Empathie für sie nicht erwehren, als sie wirklich in jede Mülltonne blickte, auf der Suche nach ihrem kleinen Hund.

Text und Abbildung: Dieter Motzel. Mai 2017

Vogelfrei

Vogelfrei

Eine Amsel, die mit ihrem aufgeweichten Gefieder tot in einem Wasserbottich schwamm. Heimatlos geworden, war ein spontaner Gedanke von mir, aber jenseits des Lebens gibt es keine Heimat mehr. Wer sie nicht zu seinen Lebzeiten findet, wird sie niemals mehr finden. Wer Trugbildern vertraut, könnte die Amsel im Himmel sehen. Der spiegelte sich in einem tiefen Blau mit seinen weißen Wolkenfetzen auf der Wasseroberfläche. Die schwarzen Federn des Vogels trieben darin langsam von Wolke zu Wolke. Vielleicht war es ja gerade dieses Trugbild des blauen Himmels, das sie in den Wasserbottich lockte, in dem sie ihre letzten Minuten verbrachte, dem Himmel so nah und doch so fern. Es sind letztlich nur Gedankenspiele. Womöglich ist der Tod weitaus profaner als unsere klägliche Vorstellung davon. Was blieb, war ein toter Vogel, der aufgehört hatte, mit den Flügeln zu schlagen und im Wasser trieb.

Solche zufälligen Fundstücke haben auf mich eine gewisse Sogwirkung, und mein Gehirn arbeitet sich an zweidimensionalen Bildern ab. Ich übersetze das Gesehene im Kopf in Striche, Strukturen und Farben. Die wahren Bilder entstehen immer im Kopf, und nur eine mehr oder weniger schlechte Kopie davon, auf Papier oder Leinwand, lässt sich an die Wand hängen. Es ist nicht möglich, damit zufrieden zu sein.

Text und Abbildung: Dieter Motzel 2016